(Davor: Echte, ‚offene Entscheidungssituationen‘ (6.8.7))
Prämissen und Perspektivität
Im folgenden Unterkapitel soll auch deutlich werden, inwiefern Oevermann insgesamt von einem analytischen – im Unterschied zu einem praktischen – Paradigma von „Krise und Routine“ spricht. Zur wissenschaftlichen Arbeit entlang des analytischen Paradigmas der Methodologie der Objektiven Hermeneutik ist demnach ein Perspektivenwechsel zu vollziehen und eine von der Praxis distanzierte wissenschaftliche methodologisch zu begründende Positionalität einzunehmen: Während die beiden ersten, bereits abgehandelten Zugriffe auf dieses Paradigma aus der Perspektive lebenspraktischer Vollzügeerfolgten, und zwar erstens solcher Vollzüge, die in (Form von) Sprechakten geschehen, zweitens welche Krisentypen in diesen lebenspraktischen Vollzügen (krisentheoretisch) unterschieden werden können, findet nun drittens ein Wechsel zur methodologischen Perspektive statt. Oevermann thematisiert diesen Perspektivenwechsel so:
Die bisher behandelten beiden Zugriffe auf das Verhältnis von Krise und Routine gelten für die Realität der Lebenspraxis selbst, sie entsprechen dem lebenspraktisch abgeforderten Prozedieren auf dieser Ebene, bilden also Krisenkonstellationen ab, die sich dort manifest einstellen. […] Ein dritter Zugang zum Verhältnis von Krise und Routine ergibt sich im Zusammenhang mit dem Entscheidungsbegriff auf der Ebene der sozialwissenschaftlichen Analyse von Lebenspraxis, und zwar aus der Methode der Sequenzanalyse als dem Herzstück der objektiven Hermeneutik (Oevermann 2016, S. 65).
Der bereits angearbeitete „Entscheidungsbegriff“ rückt demnach nun im dritten Zugriff auf den Zusammenhang von „Krise und Routine“ aus sozialwissenschaftlicher Perspektivität in den Vordergrund der Auseinandersetzung. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Hinweis, dass das (umfassende) Paradigma (von „Krise und Routine“) nun als Ergebnis einer bestimmten Analyseweise, nämlich der „Sequenzanalyse“ dargestellt wird, indem gesagt wird, dieses ergäbe sich bei sozialwissenschaftlicher Analyse aus der Methode der Sequenzanalyse. Mit dieser Methodik also wird (das Kernstück) dieses Paradigmas („Krise und Routine“) auf empirischer Ebene zugänglich. Etwas vereinfacht kann man formulieren, der Gründer der Objektiven Hermeneutik postuliert, dieses Paradigma sei empirisch (wissenschaftlich) beweisbar. Vielleicht ist es treffender zu sagen: Im Zuge von Sequenzanalysen zeigt sich dieses generelle Paradigma immer wieder in einer konkreten Ausprägung.
Mit Verweisen auf empirische wie auch konstitutions- und metatheoretische Fundierungen führt Oevermann die Auseinandersetzung mit anderen Methodologien mitunter sehr scharf, das sei hier nur angemerkt, ohne in die gleiche Schärfe einschwenken zu wollen. Als Beleg seien zwei Zitate aus dem sogenannten Manifest der Objektiven Hermeneutik angeführt:
Es handelt sich um eine Methodologie, die bewußt und strategisch darauf aus ist, die Ebene der bloßen Deskriptivität, die im 19. Jahrhundert methodisch die Erfahrungswissenschaften von der sinnstrukturierten Welt bestimmt hat, zu verlassen und zu überwinden zugunsten einer erschließenden und aufschließenden Gegenstandsanalyse (Oevermann 2002, S. 1).
Die realitätsaufschließende Kraft klassifikatorischer, die Sequentialität von Sozialität ausblendender Verfahren ist in den Humanwissenschaften von vornherein sehr begrenzt. Diese verbleiben in der Deskriptivität (ebd. S. 9).
Die Kritik ist getragen vom Anspruch „bloße Deskriptivität“ zu „überwinden“ zugunsten einer „erschließenden und aufschließenden Gegenstandsanalyse“. Wie dieser Anspruch umgesetzt wird, sei im Folgenden dargelegt.
(Weiter zu: Das Modell der Sequenzanalyse am Beispiel des Grußes (6.9.2))