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Das Modell der Sequenzanalyse am Beispiel des Grußes (6.9.2)

(Davor: ‚Sequenzanalyse‘ (6.9 + 6.9.1))


Oevermann führt dazu ein „einfaches Modell der Sequenzanalyse“ (vgl. Oevermann 2016, S. 65) ein, das exemplarisch, wenn auch sehr abstrakt bzw. generalisiert, an einem Gruß – also an einem sehr kurzen und vereinfachten Dialogangebot – veranschaulicht wird, siehe dazu die folgende Abbildung. Konkreter ausgeführt wird das am Beispiel der begrüßenden Anmoderation bei einer Fernsehsendung in Oevermann 1983.

Im Zentrum dieses Modells steht die sogenannte Nullsequenz oder „Seq 0“, also jene Stelle, die als Teil einer Verkettung der Sequenzen Seq -1, Seq 0, dann Seq +1 zu analysieren ist.

Im Verständnis des gerade (in Kapitel 6.8.7) dargelegten Entscheidungsbegriffs der Objektiven Hermeneutik wird Seq. 0 als soziale Handlungs- und Entscheidungssituation verstanden, die es konkret – Forschung sei immer konkret und somit letztlich Fallforschung (Oevermann 2016 S. 43) – wissenschaftlich zu erklären gilt. Die Besonderheit und das Alleinstellungsmerkmal der Objektiven Hermeneutik besteht dann darin, dass sie einerseits die intuitive Deutungsfähigkeit und Subjektivität von Interpret*innen nutzt, und andererseits im Grunde an jeder kleinen Sequenzstelle die Erklärung für die so getroffene Entscheidung der jeweiligen Lebenspraxis, die sich in der jeweiligen Ausdrucksgestalt objektiviert hat, sucht. Dieses Modell wird nun schrittweise mit sehr genauem Bezug auf die Metabetrachtung, die Oevermann in seiner Abschiedsvorlesung darlegt, durchgearbeitet, um es für die weitere Studie bezugsfähig aufzubereiten:

Zunächst weist Oevermann auf jene vielfältig in seinen Forschungen belegte Prämisse hin, wonach Sozialität sich aus „vorgängigen“ dialogischen Prozessen ergibt, die im Kern auf Reziprozität und Dialogizität beruhen. Vorgängig wird in diesem Zusammenhang betont, da die Regelhaftigkeit des Sozialen konstitutionstheoretisch den jeweiligen sogenannten Interaktionen vorausgehe. Diese Vorgängigkeit des Sozialen gegenüber konkreter Interaktion geschieht in ausdrücklicher Abgrenzung von anderen sozialwissenschaftlichen Theorien, die Interaktionen als grundlegend (dem Sozialen vorgängig) hervorstreichen, hier sei nur der Symbolische Interaktionismus Blumers angeführt (vgl. Blumer 2013). Im folgenden Zitat kommt das vor allem durch die Wendung „sogenannte Interaktion“ sowie durch eine Fußnote zum Ausdruck, in der Oevermann auf die Grundlagen (Reziprozität und Dialogizität) menschlicher Interaktion hinweist:

Vor allem an der Basisform von Sozialität, der sogenannten Interaktion […], erweist sich die Sequenzanalyse als jeder klassifikatorisch-statischen Erfassung sozialer Realität überlegen (Oevermann 2016, S. 65f.).

Die konstitutionstheoretische Grundannahme der Reziprozität und Dialogizität von Sozialität hat weitreichende Folgen. Aus ihr leitet sich die Aufmerksamkeit auf den jeweils stattfindenden sozialen Prozess ab, sowie die in diesem Prozess entstehenden Ausdrucksformen, die als „Ausdrucksgestalten“ „protokolliert“ und „objektiviert“ vorliegen müssen, damit sie wissenschaftlicher Analyse (wiederholt und nachvollziehbar) zugänglich werden:

[Die] interaktiv sich vollziehende soziale Realität besteht letztlich in nichts anderem als einer Verkettung von Sequenzstellen, die jeweils Entscheidungssituationen im Kleinen gleichkommen. Dies schlicht dadurch, daß diese Sequenzen nicht einfach durch ein unvermeidliches temporales Nacheinander sich ergeben, sondern durch algorithmische Regeln der Bedeutungserzeugung generiert werden (Oevermann 2016, S. 66).

Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang, dass Sequentialität nicht bloß ein zeitliches Nacheinander bezeichnet, sondern die jeweiligen „Bedeutungen“ von Sequenzen (wie „Guten Tag“ siehe Seq. 0 in Abbildung 28) werden an der jeweiligen Sequenzstelle durch die vorangehende(n) Sequenz(en) „durch algorithmische Regeln generiert“:

An jeder Sequenzstelle, bezeichnet durch eine protokollierbare Handlung oder Äußerung, werden durch solche Regeln mögliche Anschlüsse erzeugt und eröffnet (Oevermann 2016, S. 66).

Die protokollierte, vorausgehende Handlung (ausgewiesen in Seq. -1) ist gemäß Abbildung 28 der Gruß („Guten Tag!“), gerichtet vom Grüßenden B an den Begrüßten A. Dadurch sind durch soziale Regeln folgende Anschlussmöglichkeiten gegeben:

B kann zurückgrüßen oder den Rückgruß verweigern (Oevermann 2016, S. 66).

Zwar gibt es viele nuancierende Variationen dieser beiden gegensätzlichen Möglichkeiten, doch bei genauerer Untersuchung stellt sich heraus, dass diese beiden Möglichkeiten – wenn man das strukturale Regelverständnis der Objektiven Hermeneutik zu Grunde legt – zur Auswahl ‚anstehen‘:

Beide Möglichkeiten sind wohlgeformte Handlungen mit durch Regeln erzeugter, feststehender Bedeutung (Oevermann 2016, S. 66).

Im Folgenden wird ‚Regel‘ bzw. ‚regelerzeugt‘ von ‚Norm‘ unterschieden und betont, dass konstitutionslogisch Regeln den Normen vorausgingen, also unter Nutzung von Regeln der Bedeutungsgenerierung (sie sind im Zuge der Sozialisation vorwiegend nebenbei erworben und stehen intuitiv zur Verfügung) eine Verständigung auf Normen  stattfindet:

Man sieht im übrigen an diesem Beispiel, daß der Regelbegriff konstitutionstheoretisch dem Normenbegriff vorausgeht: Denn obwohl die Verweigerung des Rückgrußes auf der Ebene der Normen in der Regel als abweichende und nicht akzeptable Handlung gilt, stellt sie auf der Ebene der Regelgenerierung eine durchaus wohlgeformte Äußerungsform mit einer klaren Funktion und kontextunabhängigen Bedeutung dar (Oevermann 2016, S. 66).

Dann erst, also unter entsprechend eigenwilliger (autonomer) Bezugnahme auf die Möglichkeiten, die bereits in der Bedeutung der vorangehenden Handlungssequenz angelegt (generiert) sind, kommt es zur Auswahlentscheidung, deren Umsetzung („Vollzug“) schaffe als „point of no return“ eine neue Situation mit neuen Möglichkeiten:

An jeder Sequenzstelle muß aber zweitens, mit Bezug auf diese durch Regeln eröffneten Möglichkeiten, von den beteiligten Akteuren entschieden werden, welche davon durch praktischen Vollzug verwirklicht werden soll und welche daraufhin in der Logik des „point of no return“ ausgeschieden sind (Oevermann 2016, S. 66).

In dieser Textstelle erfolgt eine Zusammenfassung im Hinblick auf sequenzanalytische Konsequenzen: an jeder Sequenzstelle (also dort wo zwei Sequenzen miteinander verkettet sind) sei eine „scharfe“ Unterscheidung zu beachten, einerseits sind die „eröffneten Möglichkeiten“ zu erkennen, und andererseits zeigt sich die „vollzogene Wirklichkeit“. Mit dieser Unterscheidung wird über eine bloße Beschreibung bzw. Paraphrasierung hinausgegangen. Und mit dieser Unterscheidung wird die konkrete Ausprägung einer Äußerung als Folge einer zu Grunde liegenden Regel in ihrer „Bedeutung erschlossen“. Dabei werden die ausbuchstabierten Möglichkeiten als „Folie“ genutzt, um die vollzogene Wirklichkeit schlüssig zu (er-)klären:

An jeder Sequenzstelle müssen wir also sequenzanalytisch zwei Ebenen der Analyse scharf unterscheiden: Zum einen die Ebene der eröffneten Möglichkeiten, die Teil der Empirie sind, und zum anderen die vollzogenen Wirklichkeiten. Erst auf der Folie der ersteren erhalten diese letzteren ihre über eine bloße beschreibende Paraphrasierung hinausgehende erschlossene Bedeutung (Oevermann 2016, S. 66).

Demnach ist der Anspruch der Objektiven Hermeneutik, die Handlungsmöglichkeiten je Sequenzstelle gedankenexperimentell auszuformulieren. Dann ist „auf der Folie“ dieser objektiv gegebenen Möglichkeiten (die im Übrigen meist über die subjektiv zur Verfügung stehenden Möglichkeiten deutlich hinausgehen) die tatsächlich gesetzte Handlung anhand der protokollierten Ausdrucksgestalt zu erklären.

Schließlich erfolgt auch eine Zusammenfassung im Hinblick auf Sequentialität der Lebenspraxis, welche auch als Bildungsprozess bezeichnet wird, der in eine offene Zukunft vollzogen wird:

Lebenspraxis vollzieht sich letztlich in einer ständigen Verkettung solcher Sequenzstellen in eine offene Zukunft, so daß wir sie auch als einen Bildungsprozeß bezeichnen können. Theoretisch, also der Möglichkeit nach, ist jede Sequenzstelle eine Krisenstelle. Das kann allerdings nur der handlungsentlastete Sequenzanalytiker so sehen, der gehalten ist, die eröffneten Möglichkeiten, unter denen zu wählen ist, sorgfältig auszubuchstabieren (ebd.).

Abermals wird betont, dass nur der handlungsentlastete Sequenzanalytiker in der Lage sei, die Möglichkeiten, die sich in der Praxis eröffnen würden, gedankenexperimentell zu erkennen und sprachlich auszuführen.


(Weiter zu: Zwei ‚Parameter‘ der Sequenzanalyse (6.9.3))