(Davor: Das Modell der Sequenzanalyse am Beispiel des Grußes (6.9.2))
Zur Entschlüsselung von Bedeutungs- und Sinnstrukturen geht die Objektive Hermeneutik von folgender Grundannahme aus:
Die Sequenzanalyse macht darauf aufmerksam, daß jede konkrete Praxis im menschlichen Leben eröffnet und beschlossen werden muß, damit verbindlich und strukturiert gehandelt werden kann (Oevermann 2002, S. 6).
Die Sequentialität der menschlichen (Handlungs-)Praxis lässt sich demzufolge in jeder Handlungskette an jedem Kettenglied nachweisen. Man kann ein solches Kettenglied als Sequenzstelle, im Hinblick auf zwei wirkende Strukturen genauer betrachten, und zwar im Hinblick auf „eröffnete Möglichkeiten“ (Parameter I) und im Hinblick auf den „Vollzug von Wirklichkeit“ (Parameter II):
Es wird darin [in der Sequenzanalyse] grundlegend zwischen zwei ganz verschiedenen Parametern in der Determination von Sequenzen unterschieden. Ein erster Parameter von Erzeugungsregeln besteht aus dem Gesamt an Sequenzierungsregeln, durch die an einer je gegebenen Sequenzstelle die sinnlogisch möglichen Anschlüsse erzeugt werden und auch die je möglichen sinnlogisch kompatiblen vorausgehenden Handlungen festgelegt sind und entsprechend erschlossen werden können. Diesen Parameter muß man sich vorstellen als eine Menge von algorithmischen Erzeugungsregeln sehr unterschiedlichen Typs. Dazu gehören z.B. ganz elementar die Regeln der sprachlichen Syntax, aber auch die pragmatischen Regeln des Sprechhandelns und die logischen Regeln für formale und für material-sachhaltige Schlüssigkeit. Dieses Gesamt an Sequenzierungsregeln erzeugt an jeder Sequenzstelle je von Neuem einen Spielraum von Optionen und Möglichkeiten, aus denen dann die in diesem Praxis-Raum anwesenden Handlungsinstanzen per Entscheidung eine Möglichkeit auswählen müssen. Welche Auswahl konkret getroffen wird, darüber entscheidet ein zweiter Parameter von Auswahlprinzipien und -faktoren, der alle Komponenten und Elemente der Disponiertheit der verschiedenen beteiligten Lebenspraxen oder Handlungsinstanzen umfaßt. Das Gesamt der Dispositionen einer je konkreten Lebenspraxis macht deren Eigenart oder deren Charakter, sequenzanalytisch ausgedrückt: deren Fallstruktur, aus (Oevermann 2002, S. 7; [Hervorhebungen im Original unterstrichen]).
Jene generativen Strukturen, die dem handelnden Subjekt bzw. der jeweiligen Praxis Möglichkeiten eröffnen, werden, wie bereits erwähnt, als Erzeugungsregeln bzw. Generierparameter (I) bestimmt; jene Strukturiertheit, die aus diesen objektiven (also auch oft nicht bewussten) Möglichkeiten im jeweiligen Fall die Auswahl trifft, wird als Fallstruktur bzw. Parameter (II) bezeichnet. Auf der Ebene einzelner Sequenzen bzw. Sequenzketten wird sequenzanalytisch herausgearbeitet, welche Strukturen (Parameter I) zu Auswahlmöglichkeiten geführt haben, und welche Auswahl im Vollzug einer Handlung tatsächlich erfolgt ist (Parameter II bzw. Fallstrukturparameter). Der konkrete Nachweis dieser beiden Parameter wird manchmal in der Oevermann-Rezeption Feinstrukturanalyse genannt. Jedenfalls in den späteren Werken Oevermanns (ab 1996) habe ich diesen Begriff nicht gefunden. Detlev Garz verwendet das Konstrukt Feinanalyse zur Charakterisierung der Forschungspraxis der Sequenzanalyse (vgl. Garz 2013, S. 255). Auch Manfred Lueger verwendet den Begriff Feinanalyse, und zwar in Abgrenzung zu Analysen, die man als Metabetrachtung bezeichnen könnte, wie zum Beispiel Systemanalyse oder Themenanalyse (vgl. Lueger 2010, S. 186-214 und 260).
Die objektive Hermeneutik ermöglicht demnach im Zuge extensiver Sequenzanalysen, aus Ausdrucksgestalten einer Lebenspraxis zweierlei: Zum einen kann ein Möglichkeitsparameter (I) rekonstruiert werden, der die Generierregeln, welche in einem Handlungsablauf an einer bestimmten Sequenzstelle Handlungsoptionen hervorbringen, offenlegt; zum anderen kann ein Fallstrukturparameter (II) freigelegt werden, der den spezifischen Umgang mit den Handlungsoptionen als Auswahl- oder Fallstruktur erfasst. Mit Hilfe dieser beiden Parameter kann der Fall (eingeschränkt entlang entsprechender Fragestellungen, die aus der Vielzahl von jeweils gleichzeitig wirksamen Strukturen möglichst nur auf eine fokussieren) in seiner Sprache sich zu erkennen geben (Oevermann 2002, S. 21).
(Weiter zu: ‚Struktur‘: Allgemeines und Besonderes zugleich (6.10))