(Davor: Zwei ‚Parameter‘ der Sequenzanalyse (6.9.3))
Bisher war in diesem Glossar (Kapitel 6) konstitutionstheoretisch allgemein von Lebenspraxis (oder auch einzelnen oder kollektiven Subjekten) als Träger*innen von Entscheidungen die Rede. Häufig wurde auch von Strukturen gesprochen, die Entscheidungen bewirkten und wiederum andere Strukturen, nämlich Bedeutungs- und Sinnstrukturen hervorbrächten, die objektiviert in Ausdrucksgestalten (von Lebenspraxis) vorlägen und gelesen werden könnten. Nun soll der vielschichtige Strukturbegriff der Objektiven Hermeneutik näher beleuchtet werden.
‚Struktur‘ ist ein zentraler Begriff der Objektiven Hermeneutik. Er kommt in vielen Nuancen und zusammengesetzten Begriffsbildungen vor. Darauf weist Ulrich Oevermann bereits in der Einleitung des sogenannten Manifests der Objektiven Hermeneutik hin:
Die Methodologie der objektiven Hermeneutik stellt in meinem Forschungsschwerpunkt seit langem erprobte Methoden und Techniken der Sozial- und Kulturforschung bereit, die sich vor allem dazu eignen, auf wenig erforschten Gebieten und bei neuen, noch wenig bekannten Entwicklungen und Phänomenen, die typischen, charakteristischen Strukturen dieser Erscheinungen zu entschlüsseln und die hinter den Erscheinungen operierenden Gesetzmäßigkeiten ans Licht zu bringen. Es handelt sich um eine Methodologie, die bewußt und strategisch darauf aus ist, die Ebene der bloßen Deskriptivität, die im 19. Jahrhundert methodisch die Erfahrungswissenschaften von der sinnstrukturierten Welt bestimmt hat, zu verlassen und zu überwinden zugunsten einer erschließenden und aufschließenden Gegenstandsanalyse“ (Oevermann 2002, S. 1).
Die Entschlüsselung von „typischen, charakteristischen Strukturen“ sowie Gesetzmäßigkeiten hinter den Erscheinungen statt der „bloßen Deskriptivität“ ist also als Hauptanliegen der objektiven Hermeneutik deklariert – man könnte auch dieser Passage entnehmen: proklamiert. Der Strukturbegriff der objektiven Hermeneutik Oevermanns geht von der konstitutionstheoretischen Vorannahme aus, dass das humansoziale Geschehen sequenziell verlaufe bzw. konstituiert sei. Und dieserVorannahme wird bei jeder sequenzanalytischen Fallrekonstruktion auch empirisch konkret nachgegangen.
(Weiter zu: Ein „vollständig veränderter Strukturbegriff“ (6.10.1))