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Ein „vollständig veränderter Strukturbegriff“ (6.10.1)

(Davor: ‚Struktur‘: Allgemeines und Besonderes zugleich (6.10))


Der Strukturbegriff der objektiven Hermeneutik lässt sich dann folgendermaßen aufschlüsseln:

Daraus folgt ein für die Humanwissenschaften vollständig veränderter Strukturbegriff. Strukturen sind jetzt nicht mehr in einer sonst üblichen leeren formalen Bestimmung eine Menge von Elementen, die in einer zu spezifizierenden Relation zueinander stehen. Sie sind vielmehr für je konkrete Gebilde, die eine Lebenspraxis darstellen, genau jene Gesetzmäßigkeiten, die sich überhaupt erst in der Rekonstruktion jener wiedererkennbaren typischen Auswahlen von Möglichkeiten abbilden lassen, die durch einen konkreten Fall aufgrund seiner Fallstruktur bzw. seiner Fallstrukturgesetzlichkeit getroffen werden. Eine Fallstrukturgesetzlichkeit bzw. eine Fallstruktur kennt man erst dann, wenn man sequenzanalytisch eine vollständige Phase in deren Reproduktion oder Transformation rekonstruiert hat. In dieser Betrachtung fallen nun Struktur und Prozeß zusammen. Struktur ist nicht statisch vom dynamischen Aspekt des Prozesses unterschieden, wie das etwa im statisch-komparativen Analyseansatz immer der Fall ist, sondern ergibt sich überhaupt erst als aus dem Prozeß erschließbar (Oevermann 2002, S. 10; [Hervorhebung im Original unterstrichen]).

Strukturen werden dabei nicht als etwas Statisches aufgefasst, vielmehr sind sie nur phasenweise und insofern statisch, indem sie sich und damit auch Routinen reproduzieren. Darüber hinaus transformieren sie sich in Krisen, die das Abrücken von Routinen und den dahinter liegenden Strukturen notwendig machen. In Krisen kommt es dazu, dass dabei „Struktur und Prozeß“ bewusst in Betrachtung gelangen. Dabei „fallen“ sie „zusammen“ (siehe auch Kapitel 6.8). Somit werden diese je einzigartigen Fallstrukturen, die eine Lebenspraxis „abbilden“, „überhaupt erst aus dem Prozeß erschließbar“.

Der völlig veränderte Strukturbegriff besteht demnach darin, dass darunter jene „Gesetzmäßigkeit“ verstanden wird, die ein „je konkretes Gebilde“ eine „Lebenspraxis“ darstellt; in anderen Passagen wird der offene Bildungsprozess betont:

Denn Lebenspraxen, konkrete Handlungsinstanzen mit einer Subjektivität sind jeweils historisch-konkrete Gebilde, die sich – wie dieser Begriff schon bezeichnet – in einem je individuierenden Bildungsprozeß entwickelt sowie eine Identität ausgebildet haben und sich durch Strukturtransformation tendenziell immer noch in eine offene Zukunft weiterbilden und entfalten können (Oevermann 2002, S. 11).

Somit rückt die Methodik in den Vordergrund, mit deren Hilfe die Fallstrukturen erschlossen werden können. Die nun zitierten Ausführungen gehen auf einen grundlegenden Artikel aus dem Jahre 1991 zurück. Darin legt Oevermann dar:

Die Methodologie der objektiven Hermeneutik – als Vorschlag für eine Methodologie des genetischen Strukturalismus – hat einen Strukturbegriff entwickelt […] in der Allgemeines und Besonderes als Moment der Sache selbst zur Geltung gebracht werden, also die Sache selbst als etwas gefasst ist, das Allgemeines und Besonderes zugleich ist (Oevermann 1991, S. 269f.).

Die „Sache“, also der jeweilige Gegenstand der Untersuchung, diese Sache wird hinsichtlich ihrer Entstehung (Genese) bzw. Emergenz von Neuem (aus Altem) erklärt. Anders formuliert: neue Strukturen werden aus der Transformation alter in neue Strukturen verstanden und erklärt. Dies kommt auch im Begriff des „Genetischen Strukturalismus“ zum Ausdruck (vgl. Oevermann 1991, S. 267-273).


(Weiter zu: ‚Die Sache selbst‘ – ‚natürliche Protokolle‘ (6.10.2))