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These 7 zu Präsenz im Handeln der Lebenspraxis vs. Distanz beim Forschen

Jede Lebenspraxis ist einzigartig

Jede Lebenspraxis hat eine je eigene einzigartige Präsenz in Raum und Zeit, und als Ursache wie auch als Folge davon ist auch die Genese und Geschichte jeder Lebenspraxis einzigartig (vgl. Oevermann 2013, S. 73-98).

Diese Einzigartigkeit kann bei einem einzelnen Individuum mittlerweile in den einzelnen Zellen, im Fingerabdruck und in der Iris der Augen nachgewiesen werden. Soziologisch und sozialisatorisch betrachtet, wird bereits durch die enge Verbindung (insbesondere in Form der Ehe) von zwei Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft (Milieus), also nicht erst mit der Rekombination ihrer Gene im Zeugungsakt, die Einzigartigkeit des Gezeugten grundgelegt (Oevermann 2014a). Die also sehr früh grundgelegte Einzigartigkeit eines neuen Individuums wird sodann gleichsam mit jedem Schritt, jeder zu bewältigenden Situation, genauer im laufenden Vollzug von unausweichlichen Entscheidungen – auch nicht zu entscheiden wird zur Entscheidung – ausgebaut; das neue Leben gewinnt an Geschichte, Autonomie und einzigartiger Struktur.

Erfahrungswissenschaft arbeitet an zeitlos gestellten Spuren der Lebenspraxis

Das wissenschaftliche Fallverstehen erfolgt systematisch außerhalb der Präsenz der Lebenspraxis, jenseits ihres Hier und Jetzt. Erfahrungswissenschaft bezieht sich demnach grundsätzlich auf Protokolle als Spuren einst stattgefundener Lebenspraxis, die in der Objektiven Hermeneutik als Ausdrucksgestalten eben dieser Praxis bezeichnet werden. Solche Protokolle sind gleichsam zeitlos gestellt, sie können wieder und wieder untersucht werden, sie sind also jenem Augenblick der Präsenz ‚enthoben‘, in dem sie hervorgebracht worden sind.

In diesem Zusammenhang wird auch deutlich, dass die Wissenschaft nicht das Kommando oder die Führung (Leadership) über die Praxis übernehmen kann, sie würde aufhören in aller Ruhe und methodischer Sorgfalt als Wissenschaft (also nachträglich) zu untersuchen, sondern sich ins riskante Feld der Praxis und in die Gegenwart einer Praxis begeben, würde sich der Dynamik des praktischen Handelns aussetzen. Demnach wäre es ein Trugschluss, aus der Position des wissenschaftlichen Fallverstehens klüger sein zu wollen als die jeweiligen Praxen, denn die jeweiligen Handlungsräume, Handlungszeiten und Handlungsgrundlagen sind verschieden, ja durch einen „unüberbrückbaren Hiatus“ (Oevermann 2013, S. 73) getrennt.