Das Autonomie-Dilemma des handelnden Subjekts
Ein Mensch (ein handelndes Subjekt oder allgemeiner: eine Lebenspraxis) kommt dann in ein hier so genanntes Autonomie-Dilemma, wenn ihm Routinen zur Lösung eines – im Zuge seines im Handeln anstehenden – Problems fehlen. Um dann nämlich nicht aus dem Fluss der Praxis auszusteigen und am Problem zu scheitern, muss das praktisch handelnde Subjekt insofern eine Lösung wagen, als die Handlungsoptionen nicht vorab restlos abzuklären sind. Daher riskiert der Mensch eine Lösung, die er sodann noch genauer verstehen und allenfalls weiter (be-)handeln, also modifizieren wird. (vgl. Oevermann 2002, S. 11; Oevermann 2016, S. 44).
Sequenzanalytische Fallrekonstruktion in drei Modi des Fallverstehens
Zu dieser These seien noch einige methodische Aspekte ausgeführt: Expliziert kann das gerade postulierte Autonomie-Dilemma mit Hilfe des wissenschaftlichen Fallverstehens, insbesondere in Form der sequenzanalytischen Fallrekonstruktion der Objektiven Hermeneutik werden. Dabei wird Fallverstehen in drei Erscheinungs- und Anwendungsweisen, in drei Modi des Fallverstehens gleichzeitig genutzt: Erstens, der Modus naturwüchsigen, reflexiven Fallverstehens wird von allen Lebenspraxen (von uns allen) in Krisen laufend für die nachträgliche Begründung unserer autonomen Handlungen entfaltet; zweitens, der Modus von Kunstlehren (etwa von Pädagog*innen), die in professionalisiertes Fallverstehen münden; drittens ein in eine Methodologie eingebettetes, methodisiertes wissenschaftliches Fallverstehen. Mit Letzterem können die beiden Ersteren nachgewiesen und expliziert werden (Kapitel 1.8). In Bezug auf riskante, autonome Entscheidungen und Handlungen, in denen Neues emergiert, schließt sich hier der Kreis: Die riskante Handlung wird bewusst verantwortet. Dieses Autonomie-Dilemma, dass autonome Handlungen in eine offene Zukunft gesetzt werden und gleichzeitig eine nachträgliche Begründung erheischen (vgl. Oevermann 2002, S. 11), wird in der Metabetrachtung der eigenen Autonomie, also in einem der drei Modi des Fallverstehens gelöst. Erst dadurch unterscheidet sich Autonomie von ‚Beliebigkeit‘ (siehe Lutz-Bachmann 2019, S. 1).