Der unverwechselbare Anspruch an das wissenschaftliche Fallverstehen – im Verständnis der Objektiven Hermeneutik und ihrem analytischen Paradigma von ‚Krise und Routine‘ – besteht darin, einerseits Krisenlösungen wissenschaftlich zu erschließen und andererseits auch das Fallverstehen der Modi 1 und 2 konkret aus objektiviert vorliegenden Krisenlösungen zu erklären. Die Unverwechselbarkeit der Objektiven Hermeneutik besteht vor allem darin, dass auch Routinen jeweils auf Krisen zurückgeführt werden (können), aus denen diese Routinen einmal (als Krisenlösung) hervorgegangen sind (Kapitel 6.8.6). Während also die Wissenschaft (im analytischen Paradigma von ‚Krise und Routine‘) von der ‚Krise als Normalfall‘ (Oevermann 2016, S. 86) ausgeht (denn aus ihr lässt sich eine Routine als bewährte Krisenlösung ableiten), äußert sich der Habitus der Lebenspraxis gerade umgekehrt, denn die Lebenspraxis nutzt, solange wie es nur geht, bewährte Routinen, da diese ein rasches und zuverlässiges Handeln ermöglichen.
Das riskante Hier und Jetzt der Lebenspraxis
Um Missverständnissen vorzubeugen, wonach wissenschaftliches Fallverstehen ‚klüger‘ oder ‚besserwissend‘ gegenüber naturwüchsigem oder naturwüchsig – etwa in der pädagogischen Praxis – professionalisiertem Fallverstehen sein wolle oder könne, möchte ich darauf hinweisen, was in These 7 und These 8 (Kapitel 1.10.7 und 1.10.8) wie auch in Kapitel 6 (Glossar), insbesondere 6.4 bis 6.8, ausgeführt ist: Wissenschaftliches Fallverstehen erfolgt meist weit entfernt und daher auch der jeweiligen zeitlichen und räumlichen Gegebenheiten jener Handlungspraxis ‚enthoben‘, deren Folgen anhand entsprechender Manifestationen untersucht werden. Eine wissenschaftliche Untersuchung befindet sich in Relation zum Handlungsdruck der Praxis in einer distanzierten, relativ komfortablen Situation, in der gilt: Im Nachhinein kann man leicht klüger sein (wenn man sich darum bemüht). Allerdings, sofern die Wissenschaft selbst eine Praxis (etwa in Forschungsprojekten) entwickelt, unterliegt auch sie dem Druck des Handelns bzw. der Handlungspraxis. Das führt (so wie generell in der Lebenspraxis) dazu, dass bei neuen Herausforderungen Entscheidungen in eine ungewisse Zukunft getroffen werden müssen, deren Bewährung erst im Nachhinein geklärt werden kann, obwohl die jeweiligen Entscheidungen mit dem „Anspruch auf grundsätzliche Begründbarkeit getroffen werden“ (Oevermann 2002, S. 11; genauer in Wie kommt es nun zur Autonomie einer solchen Lebenseinheit? bzw. Kapitel 6.7.2).
Methodologischer Realismus
Die nun wachgerufenen Bezüge auf die Logik des Fallverstehens sind an den Anfang dieses Kapitels zur Erschließung einzelner, und später dann auch zeitlich oder thematisch gruppierter Blätter aus der Kompetenzmappe der Grundschülerin Erna gestellt. Dies ist in der Absicht geschehen, die Logik der Methodik, also die Methodologie in Position zu bringen. Dies ist hier auf kaum fünf Seiten entsprechend allgemein geschehen. Allerdings sind diese Seiten gespickt mit Verweisen auf andere Kapitel bzw. Quellen. Insbesondere im eigenständigen Kapitel 6, Glossar methodologischer Grundbegriffe, sind weitergehende methodologische Darlegungen systematisch ausgeführt. Dadurch soll ein methodologischer Realismus grundgelegt werden, der für real hält, was durch entsprechende Methoden nachgewiesen werden kann (siehe Kapitel 1.1.2 und 2.4.7 sowie Eine ‚eigenlogische Realitätsebene‘: ‚Objektive Sinnstrukturen‘ bzw. Kapitel 6.6). Dies reicht also darüber hinaus, was wir unmittelbar mit unseren Sinnen als ‚real‘ wahrnehmen.
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