(Davor: Fallverstehen in Theorie und Praxis)
Drei Modi des Fallverstehens
Im Schwenk zwischen den folgenden drei Modi des Fallverstehens wird der Fall dieser Studie konstituiert und schlussendlich gelöst:
- Der naturwüchsige Modus 1 wird durch die Reflexionsblätter des Mädchens Erna repräsentiert.
- Der naturwüchsig professionalisierte Modus 2 wird durch das pädagogische Konzept ‚Kompetenzmappe‘ der Schulleiterin Maria T. repräsentiert.
- Der wissenschaftliche Modus 3 wird schließlich durch die zahlreichen Quellenangaben zur Objektiven Hermeneutik sowie durch die methodischen Anwendungen im Rahmen dieser Studie repräsentiert.
Im Folgenden führt Oevermann eine Differenzierung zwischen den angeführten drei Modi des Fallverstehens ein und betont dabei Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede:
Insofern nun die Operationen der Fallrekonstruktion und Strukturgeneralisierung auf der Basis der Sequenzanalyse in der objektiven Hermeneutik nur die explizite, methodisch gesteigerte Version einer naturwüchsigen alltagspraktischen Erkenntnisoperation im Zusammenhang von Krise und Muße sowie einer als Kunstlehre durchgeführten Operation des Fallverstehens in der professionalisierten Praxis darstellen, gilt, daß diese Methode der Fallrekonstruktion […] diese mehr oder weniger naturwüchsigen Erkenntnisoperationen erklärt und expliziert (Oevermann 2002, S. 28).
Bei der folgenden Besprechung des Zitats werden bestimmte Wendungen noch einmal – zum Zweck sequentieller Rekonstruktion – angeführt.
Im Folgenden führt Oevermann eine Differenzierung zwischen den angeführten drei Modi des Fallverstehens ein und betont dabei Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede:
Insofern nun die Operationen der Fallrekonstruktion und Strukturgeneralisierung auf der Basis der Sequenzanalyse in der objektiven Hermeneutik nur die explizite, methodisch gesteigerte Version einer naturwüchsigen alltagspraktischen Erkenntnisoperation im Zusammenhang von Krise und Muße sowie einer als Kunstlehre durchgeführten Operation des Fallverstehens in der professionalisierten Praxis darstellen, gilt, daß diese Methode der Fallrekonstruktion […] diese mehr oder weniger naturwüchsigen Erkenntnisoperationen erklärt und expliziert (Oevermann 2002, S. 28).
Bei der folgenden Besprechung des Zitats werden bestimmte Wendungen noch einmal – zum Zweck sequentieller Rekonstruktion – angeführt.
Sequenzielle Aufbereitung des Zitats
Dabei werden bestimmte Aspekte von mir hervorgehoben, um die Verfahrensweise der Methodik der Objektiven Hermeneutik nachdrücklich für die Studie bezugsfähig zu machen. Eröffnet wird (wenn man von der spezifischen Konstruktion der Argumentationsweise und deren Beginn mit „insofern nun“ absieht) mit der Fokussierung auf zwei methodische Operationen, nämlich:
Operationen der Fallrekonstruktion und Strukturgeneralisierung auf der Basis der Sequenzanalyse in der objektiven Hermeneutik (ebd. S. 28; [Ausschnitt aus Zitat oben]).
Dadurch wird darauf aufmerksam gemacht, dass das Kernverfahren der Objektiven Hermeneutik, die Sequenzanalyse, selbst zwei Operationen unterscheidet: Erstens die Fallrekonstruktion, bei der jeweils zwei Strukturparameter, der Generier- oder Möglichkeitsparameter (Parameter I) und der Auswahl- oder Fallstrukturparameter (Parameter II) bestimmt werden (Oevermann 2002, S. 7-12). Hinzu kommt zweitens bereits durch die fortgesetzte Rekonstruktion die Auseinandersetzung, inwiefern die entdeckten Parameter von Dauer sind, also bereits eine Strukturgeneralisierung angemessen erscheint (vgl. ebd. S. 12-16).
Dieser allgemeinen methodologischen Differenzierung hinsichtlich der Operationen der Fallrekonstruktion und der Strukturgeneralisierung folgt folgende methodologische Kernaussage, wonach die Objektive Hermeneutik bloß explizit mache, was bereits in der naturwüchsigen Alltagspraxis, und auch in der zur Kunstlehre verdichteten professionalisierten Praxis, betrieben werde. Die Objektive Hermeneutik
[stellt demnach] nur die explizite, methodisch gesteigerte Version einer naturwüchsigen alltagspraktischen Erkenntnisoperation im Zusammenhang von Krise und Muße sowie einer als Kunstlehre durchgeführten Operation des Fallverstehens in der professionalisierten Praxis [dar] (ebd. S. 28; [Ausschnitt aus Zitat oben]).
Bemerkenswert erscheint hier noch der Hinweis, dies geschehe „im Zusammenhang von Krise und Muße“. Denn dadurch wird erklärend bereits darauf hingedeutet, wodurch diese beiden nichtwissenschaftlichen Erkenntnisoperationen doch zu hochwertigen – mit wissenschaftlichen vergleichbaren – Ergebnissen führen können: Die Krise (und Muße ist eine von drei idealtypischen Krisenformen) sei der Ursprung von Erkenntnis (vgl. Kapitel 6.8.4).
An dieser Stelle werden noch begriffliche Merkwürdigkeiten bereinigt, denn in der zuvor zitierten Textpassage wurden sinngemäß zwei Modi (1 und 2) als ‚naturwüchsig‘ bezeichnet: Im Zusammenhang mit den Ausführungen im besprochenen Zitat ist das damit zu erklären, dass dort die Modi 1 und 2 in Kontrast zum wissenschaftlichen Modus 3 gesetzt worden sind. Denn nur der Modus 3 stellt eine „methodisch gesteigerte Version“ der beiden „naturwüchsigen“ Modi 1 und 2 dar. In der Folge aber bleibt der Terminus naturwüchsiges Fallverstehen dem spontanen Fallverstehen, Modus 1, vorbehalten. Zur Kurzcharakteristik des professionalisierten Fallverstehens, Modus 2, ist noch nachzutragen, dass für diesen Modus bereits eine systematisierte Reflexion von Interventionsweisen typisch ist, was im Terminus Kunstlehre zum Ausdruck gebracht ist. Somit erscheint die Beibehaltung des Terminus der Naturwüchsigkeit für den Modus 2 nicht weiter gerechtfertigt (außer in Kontrast zum Modus 3).
Auch das Krisenverständnis wird noch nachgeschärft: Später, etwa in der Abschiedsvorlesung 2008 (Oevermann 2016), in der das analytische Paradigma von ‚Krise und Routine‘ herausgearbeitet wird, wird noch deutlicher auf Krisen als analytischen (in Unterscheidung zu praktischem) Ausgangspunkt für das Verstehen der Emergenz von Neuem hingewiesen. Deswegen wird in der Bezeichnung des Paradigmas die ‚Krise‘ vor der ‚Routine‘ genannt, und deswegen ist immer wieder von Krisentheorie die Rede. Vor allem wird noch genauer differenziert zwischen „drei elementaren Krisentypen“, nämlich der „traumatischen Krise“, der „Krise der Muße“, und der „Entscheidungskrise, als dem Prototyp von Krise überhaupt“ (ebd. S. 63-65).
(Weiter zu: Fallverstehen in der Praxis)