(Davor: Grundsätzliches zum Fallverstehen in der Praxis)
Annahmen und Theorien zum jeweiligen Untersuchungsgegenstand werden nicht in der (vorrangigen) Absicht formuliert, in der Folge das Analysematerial auf Übereinstimmung mit diesen Annahmen und Theorien zu überprüfen oder Kategorien zuzuordnen, die im Voraus entwickelt worden sind. Etwas anders formuliert: Es geht nicht vorrangig darum, die Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung (allenfalls in entsprechenden Skalierungen aufgeschlüsselt) mit den Annahmen oder Theorien subsumptiv abzutesten oder einzuschätzen. Es geht auch nicht um Prognosen, was bei bestimmten Konstellationen von Merkmalen mit dieser oder jener Wahrscheinlichkeit eintreffen könnte.
Rekonstruktion von manifesten Ausdrucksgestalten im Hinblick auf latente Regeln
Vielmehr dienen die geäußerten Annahmen und Theorien vor allem einer Sensibilisierung für mögliche Zusammenhänge, denen dann an Einzelfällen bis in Details nachgegangen wird. Sodass letztlich der innere Zusammenhang soweit ‚erkannt‘ wird, dass der jeweilige Fall hinsichtlich der Fragen, die zu ihm formuliert worden sind, ergründet und erklärt werden kann.
Anders ausgedrückt, was ‚manifest‘ als Ausdrucksgestalt einer lebendigen Praxis bzw. Lebenspraxis (zum Beispiel als sogenanntes Reflexionsblatt) vorliegt, wird auf ‚latente‘ Zusammenhänge untersucht, die zu genau diesen Ausdrucksgestalten dieser Lebenspraxis geführt haben, diese also konstituiert haben.
Die Rekonstruktion derartiger Ausdrucksgestalten erfolgt sequentiell (Handlungsfolge für Handlungsfolge bzw. Sequenz gefolgt von der nächsten Sequenz). Oevermann führt die Verfahrensweise der Sequenzanalyse mit Blick auf zwei Parameter so aus:
Zum einen expliziert die Sequenzanalyse mit Bezug auf bedeutungserzeugende Regeln an jeder Sequenzstelle die aus der vorausgehenden Sequenz algorithmisch zwingend sich ergebenden Anschlussmöglichkeiten (Parameter I). Zum anderen führt sie die tatsächlich vollzogenen Anschlüsse auf ihre Motivierung durch Dispositionen zurück, die die beteiligten Akteure kennzeichnen und ihre Fallstruktur ausmachen (Parameter II). Eine Fallstruktur ergibt sich, hinreichend lange Protokollsequenzen vorausgesetzt, daraus, dass die Sequenzanalyse sukzessive jene Verkettung von Vollzügen freilegt, die den Fall als je individuierten und besonderten in seiner Fallstruktur kennzeichnen (Oevermann 2013, S. 90).
Der Parameter I und II
Der Parameter I ‚beantwortet‘ also die Frage: Welche Anschlussmöglichkeiten waren für die jeweilige Fallstruktur grundlegend? Der Parameter II ‚klärt‘ die Frage: Welche Handlungs- bzw. Fallstruktur hat zur Auswahl geführt, die sich in der konkreten Ausdrucksgestalt zeigt?
Die Darlegung der Rekonstruktionslogik bleibt an dieser Stelle noch sehr abstrakt, denn wie eingangs des Kapitels erwähnt, soll die eingesetzte Methodik (und die diese begründende Methodologie) vor allem reflexiv zur Sprache kommen, um eine möglichst offene und unmittelbare Begegnung mit dem Datenmaterial zu begünstigen. Auf ein ‚Exempel für Sequentialität‘ wie auch des ‚Fallverstehens‘ sei hingewiesen (nämlich Kapitel 1.8.2 und 1.9), zumal dieses Exempel im anschließenden Kapitel 2.3 wieder aufgegriffen wird.
Der Anspruch und die Logik der Sequenzanalyse – Fallstrukturen und ihre Bildungsprozesse zu verstehen – wird in Abgrenzung zur Logik und dem Vorgehen der Subsumtion nun folgendermaßen charakterisiert:
Fallstrukturen sind in dieser Sicht selbst Resultanten von durch Sequentialität bestimmten Bildungsprozessen. Darin schlägt sich nieder, dass für die Sequenzanalyse – methodologisch gesehen – eine Struktur eben nicht nur – wie in der Leerformel der subsumtionslogischen Sozialforschung – eine Menge von Elementen ist, die in einer zu spezifizierenden Relation zueinander sich befinden, sondern sich als das bestimmen lässt, was erst durch den sequenzanalytischen Nachweis des Prozesses seiner Herstellung evident wird. Struktur und Prozess sind hier also keine Gegenbegriffe mehr, sondern fallen in eins (Oevermann 2013, S. 90f.).
Das Ineinanderfallen von Struktur und Prozess zeigt sich demnach in seiner Lebendigkeit nur in einem sequenzanalytischen Verfahren, nicht aber in Verfahren, die nach einzelnen Merkmalen und deren Relation suchen.
Konzentration auf den inneren Kontext und immanente Regeln
Die pädagogischen Angebote oder Interventionen sowie generelle schulische Erwartungen sollen bei den Blattanalysen (zunächst) nur Erwähnung finden, sofern sie dem jeweiligen Blatt eingeschrieben erscheinen. Auch die in Interpretationsgruppen und Analysewerkstätten immer wieder gestellte Frage: „Was war die Aufgabenstellung?“ wird zunächst (methodologisch begründet) ‚weggeklammert‘. Diese Frage beträfe den (äußeren) Kontext, der zunächst unberücksichtigt bleibt, um die Analyse auf die dem Blatt immanenten ‚Aussagen‘ und die den jeweiligen Ausdrucksgestalten zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten zu konzentrieren. In der Kumulation der einzelnen – den Blättern immanenten – Analyseergebnisse entsteht sukzessive auf diese Weise ein aus den Blättern gewonnenes Kontextwissen, das laufend an den Tatsachen des jeweiligen Blattes und seiner Sinnsequenzen überprüft wird. Der Anspruch einer von äußeren Kontexten absehenden, also kontextfreien Rekonstruktion ist demnach, den Kontext aus dem jeweiligen Analysematerial nach und nach ‚heraus zu lesen‘.
Das Allgemeine im Einzelfall
Schließlich bedarf noch der Zusammenhang zwischen dem Erkenntnisinteresse an allgemeinen Fragen (siehe die drei Forschungsfragen, die auf Allgemeines im Konkreten fokussieren) und der Vorgehensweise der Erschließung am konkreten Material des Einzelfalles der besonderen Begründung, die hier allerdings nur sehr allgemein ausgeführt wird. Denn die gesamte Studie mag als Beleg für die folgenden Aussagen gelten, die aus dem ‚Manifest‘ (Oevermann 2002) stammen und in späteren Arbeiten (Oevermann 2013 und Oevermann 2016), jedenfalls in methodologischer Hinsicht, weiter ausgebaut worden sind:
Die Fallrekonstruktionen der objektiven Hermeneutik erhellen nicht segmental oder ausschnitthaft nur Teilaspekte oder spezifische Schichten eines konkreten Gebildes bzw. eines Falles (Person, Gruppe, Firma, Organisation, Verwaltung, Institution, Anstalt, etc.), sondern thematisieren immer mit dessen Fallstrukturgesetzlichkeit dessen Gesamtgestalt, seine Totalität. […]
Das Vorgehen der objektiven Hermeneutik löst die Trennung zwischen Theorie und Empirie und zwischen Theorie und Daten auf. Es bezieht Theorie- und Modellbildung unmittelbar aus den Fallrekonstruktionen und es expliziert die Strukturgesetzlichkeiten konkreter Fälle unmittelbar in theoretischen Begriffen (Oevermann 2002, S. 31).
Diesem weitreichenden Anspruch, letztlich die Gesamtgestalt einer Fallstruktur zu bestimmen, wird im Rahmen der Studie in verschiedenen Ausprägungen gefolgt. Darauf weisen in Kapitel 1: Einleitung – Fallverstehen – Thesen etwa die Ausführungen zum wissenschaftlichen Modus 3 des Fallverstehens hin (Kapitel 1.8). Unter der Überschrift: Drei Modi des Fallverstehens – ‚Krise‘ als Ursprung von Erkenntnis sind dort alle drei Arten des Fallverstehens ausgeführt, nämlich der naturwüchsige Modus 1 sowie der naturwüchsig professionalisierte Modus 2, und der hier zur Anwendung gelangende wissenschaftliche Modus 3. Darüber hinaus werden auch Bezüge zwischen diesen drei Modi ausgeführt. Überdies wurde durch die These 8 (Kapitel 1.10.8) das Gewicht und die Kritisierbarkeit dieser drei Modi des Fallverstehens im Rahmen der vorliegenden Studie unterstrichen.