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Kritische Einwände sequenzanalytisch aufgegriffen

(Davor: Diskussion zur Authentizität der Beschriftung dieser Werkzeichnung)


Zunächst zur linken Spalte, also zur Vorderseite dieses Reflexionsblattes (siehe Abbildung 25 bzw. Tabelle 2):

Ich bin stolz

Zwar kann diese Wendung (nach dem bisherigen Informationsstand) hier auch als dem Kind nahegelegte Formulierung verstanden werden. Überzeichnet etwa so: Ein Stolz-Blatt oder Reflexionsblatt beginne mit: „Ich bin stolz …“! Siehe dazu auch Blatt 10.10.2012: Zwei ‚dicke‘ Freundinnen, in Kapitel 2.7.1 sowie die darauf bezogene Präsentation in Kapitel 3.9. Bei jenem Blatt (im Gegensatz zum aktuellen) ist die Formulierung: „Ich bin stolz“, genaugenommen eine Fremdzuschreibung.

Demgegenüber dürfte es aber hier (in Blatt 22.1.2014: ‚Lui‘) viel naheliegender sein, dass die Verfasserin erleichtert und eben stolz ist, in langer geduldiger Anstrengung einen Plan umgesetzt zu haben. Es folgt nämlich die Begründung Ernas, weswegen oder inwiefern sie stolz (oder erleichtert) ist:

Das ich den Lui
entlich vertich habe.

Diese Begründung erscheint jedenfalls authentisch und plausibel – bzw. klingt in unseren Ohren „wohlgeformt“ – im Anschluss an die Äußerung zuvor („Ich bin stolz“). Denn Lui, die bewegliche Gliederpuppe, die über Fäden am Spielkreuz befestigt ist, wird aus vielen verschiedenen Teilen und Materialien hergestellt (siehe dazu auch die transkribierte Handschrift auf der Rückseite des Blattes in Tabelle 2). Das dauert und dauert und dauert. Dass ein Kind bei der Anfertigung ungeduldig wird, und endlich fertig werden möchte, ist in hohem Maß nachfühlbar.

Und der Lui ist toll.

Auch diese zunächst allgemeine Feststellung wird umgehend ‚authentisch‘ mit einer Selbstkundgabe konkret ‚begründet‘:

Man kann vol cool
spielen
mit
Den
Lui.

Das linksbündige Schriftbild ist hier übernommen, es ‚umschreibt‘ im buchstäblichen Sinn die Zeichnung, zu der dieser Text ja gehört. Dass hier nicht noch einmal in der Ich-Form gesprochen wird, ist nachvollziehbar: Man kann die Marionette ja auch aus der Hand geben und jemandem leihen.

Auch der Text auf der Rückseite von Blatt 22.1.2014: ‚Lui‘, kann als authentische Selbstkundgabe samt Sachinformation sequenziell verstanden werden. Die Äußerung ist aus einer Wir-Perspektive, als Teil einer Gemeinschaft formuliert.

Wir haben

Wer so ‚Wir‘ sagt, spricht vermutlich von einem gemeinsamen Tun oder Zustand.

Wir haben mit der Striklisel
eine Schnur gestrikt.

Es könnte demnach so gewesen sein, dass alle (die ganze Klasse) oder aber eine Gruppe in der Klasse gemeinsam nach einem angeleiteten Plan zunächst Bestandteile dieser Marionette angefertigt haben. Wenn man die gezeichnete (fertige) Marionette betrachtet, könnten der lange Hals und auch die langen Beine gestrickt sein.

In der Handschrift folgt dann ein langer Trennstrich. Vielleicht weil es sich um einen von mehreren längeren Abschnitten von Werkstunden gehandelt hat. Danach könnte ein anderer Arbeitsabschnitt gefolgt sein:

wir haben auch eine Kugel
Quwaste gemacht und einen
Bommel für den Körper

Man kann sich die unterschiedlichen Tätigkeiten und entsprechende Verfahren vorstellen: Das Anfertigen einer Kugelquaste (oder einer Kugel und einer Quaste), vermutlich für die Arme oder die Flügel der Marionette, und schließlich einen Bommel für den Körper.

Dann wechselt die Art der Tätigkeit. Vorher brauchte man Wolle und eine Schere, dann Zeitungspapier, Wasser und Kleister:

[…] – Papier=
masche gemacht

Wieder wechselt die Tätigkeit:

[…] Holzleisten
gesekt & geschnitten

Anscheinend wird so das Spielkreuz, an dem später die Marionette an Fäden oder Drähten baumelt, angefertigt.

Das ist zwar (noch lange) nicht alles an Werktätigkeiten, bis die fertige bewegliche Marionette an Fäden am Spielkreuz befestigt, bemalt, beschriftet und durch Feinabstimmung funktionstüchtig ist. Das authentische, von Herzen kommende

entlich vertich

wird zunehmend plausibel. Ebenso wird vorstellbar, dass man angesichts seines selbst angefertigten Werkstückes (authentisch auf sich verweisend) sagt:

Ich bin stolz

Und Lui? Lui ist nicht bloß ein Werkstück oder eine Marionette.

Denn Lui hat einen Namen. Er bewegt sich im gemeinsamen Rhythmus. Ist toll. Spielt mit. Warum er diese Gesichtsbemalung hat, dürfte nur Erna, die ihn geschaffen hat, wissen. Ist er empört, weil er sich nur an Fäden bewegen kann? Die gekritzelte Gesichtsbemalung bleibt rätselhaft.

Hier endet die sequenzanalytische Rekonstruktion, die sich vor allem auf ‚Authentizität‘ bezogen hat. Die Rekonstruktion mit diesem Fokus erschien insofern wichtig, als die Redewendung ‚ich bin stolz‘ zweischneidig ist: Sie kann als ‚fremde‘ Vorgabe für Reflexionsblätter gesehen werden, aber ebenso als authentische Ausdrucksweise, die im Einklang mit der inneren Erfahrung steht, die genaugenommen nicht von außen (direkt) einsehbar, daher nur in möglichst seriöser (‚methodisch-kontrollierter‘) Annäherung – über die Tatsachen des Datenmaterials und deren sequenzielle Verbindungen – zu ‚erschließen‘ ist. Zur Verwendung der Begriffe: ‚Explikation‘ – ‚Rekonstruktion‘ – ‚Erschließung‘ – ‚(Re‑)Konstruktion‘ siehe die Web-Page: Übergang zu vertiefender Analyse oder auch Kapitel 4.1 der PDF-Langversion der Studie.

Der ebenfalls fraglich gestellte Begriff der Kooperation (ich beziehe mich auf vereinzelte, sehr kritische Äußerungen in Interpretationswerkstätten, in denen von Schüler*innen gezeigte Kooperationen mit Lehrkräften als bloße Erfüllung von Erwartungen angesehen wurden), wird hier nicht mehr am Blatt zu ‚Lui‘ genauer abgehandelt. Denn in einem anderen Blatt (siehe das nächste Kapitel) gibt es eine Darstellung Ernas zu ‚Kooperation‘, und zwar wie sie sich in der Reihe ihrer Mitschülerinnen bei einer Präsentation (vor Publikum) zur Darstellung bringt. Damit sei der hohe Stellenwert der Thematik Kooperation unter den Bedingungen von Schule unterstrichen (siehe Abb. 26 aus Blatt 6.5.2013: ‚Dromeda‘ weiter unten).


(Weiter zu: RESÜMEE zu Blatt: 22.1.2014: ‚Lui‘ und CONCUSIO (Teil 1 von 3))