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Posen deutlicher Mehrdeutigkeit säumen Ernas dokumentierten Bildungsweg

(Davor: Mehrdeutige Bilder und Posen – Eindeutige Das-ist-Benennungen)


Die Beschäftigung mit Posen säumt sowohl den Entfaltungsprozess der Studie als auch den – in ihren Reflexionsblättern dokumentierten – Bildungsprozess Ernas. Dieses Kapitel dient der Validierung des finalen Postulats (siehe auch Kapitel 4.11.2). Zu diesem Zweck wird nun auch der erreichte (kumulative) Stand bezüglich Posen so in Erinnerung gerufen, dass die Kumulation möglichst fortgesetzt und mit einem Beitrag zur Conclusio abgeschlossen werden kann.

Zunächst sei in Erinnerung gerufen, dass Posen bereits im Zuge der Rekonstruktion von ‚frühen‘ Blättern hinsichtlich verschiedener Facetten thematisiert wurden, etwa als Suggestion und Rätselhaftigkeit oder als Mehrdeutigkeit oder auch als deutliche Mehrdeutigkeit oder sogar als Anstoß zu einem Dialog. Im Einzelnen werden nun entsprechende Reflexionsblätter angeführt samt Hinweisen zu offen gebliebenen Fragen bezüglich deutlicher Mehrdeutigkeiten, die nun vielleicht – mit kumulativem Blick – doch noch erhellt werden könnten:

Zu wem blickt die junge Reiterin in Blatt 01.10.2012: Reiten?

In Blatt 01.10.2012: Reiten (Kapitel 2.3), brachte Erna – drei Wochen nach ihrem Schuleintritt – auf der Bühne des roten Zeichenblattes eine Pose oder Szene zur Darstellung. Sie zeigt „die vergnügte Reiterin Erna auf einem stolzierenden Pferd, das von einer Pferdeführerin oder Reitlehrerin an einer Longe geführt wird“ (Kapitel 2.3.11.2).

Abbildung 8: Blatt 01.10.2012: Reiten. Foto; Blatt in Hülle; verkleinert

Quer über das Blatt hat sie (schwer lesbar) geschrieben: „ICH KANN GUT REITEN“ (zur Krise beim Schreiben siehe: Ein Exempel für die Sequentialität der Lebenspraxis), wodurch schon damals durch den Einsatz der Schriftsprache der Mehrdeutigkeit der eigenen Zeichnung gleichsam eine schriftliche Erklärung hinzugefügt (oder vorangestellt) wurde. Die sequenzanalytische Rekonstruktion dieses Blattes legte nahe, dass die selbstreflexive Aussage: „Ich kann gut reiten“, zuerst auf das kräftig rote Blatt geschrieben wurde (und Erna im Zuge dessen die Schwierigkeiten, welche aus der dunklen Farbe des Blattes entstanden sind, gemeistert hat). Dann wurde die Zeichnung der mehrdeutigen Szene – illustrativ, nachdenklich (reflexiv) und wesentlich reicher an Details als der zu illustrierende Satz – hinzugefügt. Trotz etlicher Details (zum Beispiel der Longe, mit der das Reittier anscheinend geführt wird) bleibt aber etliches rätselhaft unbestimmt, zum Beispiel, zu wem die Reiterin wie auch die Person am Rande blicken.

Eine Pose kooperativer Darstellung und Deutung (Blatt 24.09[.2012]: Familie)

Blatt 24.09[.2012]: Familie, ist zwar nur eingeschränkt zu den ‚Reflexionsblättern‘ zu zählen, denn es hat nur sehr wenige schriftsprachliche Einträge, nämlich den Namen der Verfasserin (pseudonymisiert wie alle Eigennamen) und das Datum.

Abbildung 11: Blatt 24.09[.2012]: Familie. Pseudonymisiert; verkleinert

Allerdings stammt es aus der Sammlung der Reflexionsblätter in Ernas ‚Kompetenzmappe‘. Außerdem wurde dieses Blatt in der Präsentation dieser Mappe durch Ernas Schulleiterin Maria T. an erster Stelle genannt, auch um Erna gleichsam im Kreis ihrer Familie vorzustellen. Das dabei genannte Thema der ‚Zeichnung‘ auf einem blassgrünen Zeichenblatt: „Ich und meine Familie“, würde zum Thema ‚Sich-Vorstellen‘ passen. Aber wenn man den Prozess der Gestaltung des Blattes einschätzt, gilt es jedenfalls als Reflexionsblatt, denn dieses Thema lädt dazu ein, die eigene Position in der Herkunftsfamilie reflexiv zur Darstellung zu bringen, was auch allem Anschein nach geschehen ist. Darüber hinaus hat sich Erna nicht nur im Kreis ihrer Familie dargestellt, sondern daneben steht, wuchtig und streng gezeichnet, allem Anschein nach die Schule (Abb. 11; siehe auch Kapitel 2.4). Demzufolge kann man sagen: Erna hat ihre aktuelle Situation knapp drei Wochen nach ihrem Schuleintritt zur Darstellung gebracht.

Der Suggestion und Mehrdeutigkeit dieser Pose folgte ich als Forscher dann (bzw. Kapitel 2.4.4). An dieser Stelle halte ich die Betonung des persönlichen Eindrucks für notwendig, denn Resonanz und Beziehung zwischen Menschen ist unumgänglich, wenn soziale oder pädagogische Verhältnisse wissenschaftlich untersucht werden, was gleichzeitig einen sehr bewussten methodologischen Umgang mit der Positionalität des Forschers verlangt. (Zu ‚Positionalität‘ vgl. Lebenspraxis als ‚Einheit des Lebendigen‘ (6.7.1) im Glossar.)

Nach einer Darlegung von mehreren Deutungsmöglichkeiten im Zuge der Rekonstruktion der rätselhaften Suggestion von Blatt 24.09[.2012]: Familie, wurde dann (gestützt auf: Garz & Raven 2015, S. 66-71) zusammenfassend folgender Schluss gezogen:

Das Bild suggeriert anscheinend auch die Selbstverständlichkeit, dass kooperativ gedeutet wird, wie das in Familien oder sonstigen kleinen (familienähnlichen) Sozialverbänden üblich ist, zumindest solange relativ kleine Kinder dazu herausfordern (siehe Abb. 14).

Diese verinnerlichte gemeinsame Deutungs- und Darstellungspraxis erwähne ich hier im Hinblick auf die zunächst kumulativ betrachtete Validierung des finalen Postulats zur Fallstruktur, insbesondere des Abschnitts (B) dieses Postulats, der der Erklärung der Struktur einer autonom ‚etablierten’ Schülerin und der Wirkweise dieser Struktur dient.

Dieser Rückblick auf zwei ‚frühe‘ Reflexionsblätter diente der weitergehenden – kumulierenden – Nutzung bereits an einzelnen Blättern gefundener Erkenntnisse, die nun ausdrücklicher auf das Postulat zur Fallstruktur und deren Erklärung oder Überprüfung bezogen wurden. Die Fallstruktur (einer autonom ‚etablierten’ Schülerin ) ist ja im Zuge der Rekonstruktion an einem bestimmten Blatt (18.10.2013: ‚Land Des Rechnens‘) entdeckt worden, und es ist eine entscheidende Frage, ob und in welcher Form diese Struktur an anderen Blättern und anderen Themen sowie zu anderen Zeiten nachweisbar ist, ob also tatsächlich die Bezeichnung Fallstruktur gerechtfertigt ist – und ob sie noch genauer als im Postulat bereits geschehen – zu erklären ist (siehe das finale Postulat und dort den Abschnitt B).


(Weiter zu: Resümee zu Blatt 6.5.2013: ‚Dromeda‘ und CONCLUSIO (Teil 2 von 3) – Validierung der Fallstruktur)